Wer sich dauerhaft nicht als weiblich oder männlich empfindet, der fällt aus der traditionellen Geschlechterzuordnung, die uns seit Adam und Eva vertraut ist, heraus. Etwa 80.000 – 160.000 intersexuelle Menschen leben in Deutschland – je nachdem, welcher Statistik man glaubt und welche Form der Intersexualität die Statistik zählt.
Für sie gab es bisher nur die Möglichkeit, ihren Geschlechtseintrag als „männlich“ oder „weiblich“ im Geburtenregister vollständig streichen zu lassen. Einen Eintrag stattdessen als „inter“ oder „divers“ konnten sie nicht verlangen.
Das muss sich zukünftig ändern – so hat es kürzlich das Bundesverfassungsgericht entschieden (Beschluss vom 10. Oktober 2017 – 1 BvR 2019/16). Das allgemeine Persönlichkeitsrecht schützt nach dieser Entscheidung auch die geschlechtliche Identität derjenigen, die weder dem männlichen noch dem weiblichen Geschlecht zuzuordnen sind. Der Gesetzgeber muss bis zum 31. Dezember 2018 im Personenstandsgesetz eine entsprechende Regelung schaffen.
So weit so gut. Was aber bedeutet die Entscheidung für den Alltag und das Arbeitsleben?
Wie sieht es beispielsweise mit der förmlichen Anrede im Brief aus? Haben die „sehr geehrten Damen und Herren“ ausgedient?
Oder mit der Toilettenfrage, die sich auch im Arbeitsumfeld stellt. Bisher gibt es in der Regel getrennte Räume für männliche und weibliche Beschäftigte. Muss zukünftig noch eine weitere Örtlichkeit her?
Auswirkungen könnte die Entscheidung auch schon in naher Zukunft haben, wenn in diesem Jahr die nächsten Betriebsratswahlen anstehen.
So sieht § 15 BetrVG vor, dass das Minderheitsgeschlecht im Betriebsratsgremium mindestens so stark vertreten sein soll, wie in der Belegschaft. Sofern das „dritte Geschlecht“ im Betrieb überhaupt vertreten ist, darf man wohl davon ausgehen, dass es in der Minderheit ist. Damit müsste es entsprechend § 15 BetrVG bei der Besetzung der Sitze im Betriebsrat berücksichtigt werden.
Müssen Wahlvorstände jetzt also die Wahl unter Berücksichtigung eines dritten Geschlechts vorbereiten und durchführen? Es würde sich dann zunächst die Frage stellen: Wie und von wem ist das Geschlecht „inter“ oder „divers“ im Rahmen des Wahlverfahrens überhaupt festzustellen, wenn es sich gerade nicht offensichtlich in der äußeren Erscheinung zeigt und zumindest bis Ende 2018 wohl auch nicht im Pass oder Personalausweis steht.
Was auf den ersten Blick kompliziert scheint, erweist sich bei genauerem Hinsehen – zumindest für den Großteil der Unternehmen – wohl eher als Scheinproblem. Vermutlich wird es in den wenigsten Unternehmen überhaupt Beschäftigte geben, die dem Geschlecht „inter“ oder „divers“ angehören. Wenn es entsprechende Mitarbeiter gibt, so ist es wiederum unwahrscheinlich, dass in einem Betrieb so viele intersexuelle Personen arbeiten, dass ein Sitz nach den Berechnungsregeln des d´Hondtschen Höchstzahlverfahrens auf sie entfallen würde.
Es bliebe dann allerdings die Frage, was in dem Fall für das zahlenmäßig zweit schwächste Geschlecht im Betrieb gilt? Streng genommen dürfte dieses nicht mehr als Minderheitsgeschlecht im Sinne von § 15 BetrVG gelten.
Faktisch wird wohl auch diese Problematik in den wenigsten Betrieben eine Rolle spielen – zumal vermutlich kaum ein inter- oder transgeschlechtlicher Arbeitnehmer gerade die Betriebsratswahl zum Anlass nehmen wird, um erstmals seine geschlechtliche Identität zu offenbaren.
Fazit: Welchen bürokratischen Aufwand die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zukünftig mit sich bringt, bleibt abzuwarten. Für die nächsten Betriebsratswahlen ist jedenfalls anzunehmen, dass sich echte (zusätzliche) Herausforderungen mangels praktischer Relevanz in den meisten Betrieben nicht stellen.
Guten Tag Carolin Kopel!
Meines Erachtens unterliegen Sie hier einer Fehlinterpretation des BVerfG Urteils. Das BVerfG hat doch entschieden, dass es die Möglichkeit eines dritten positiven Geschlechtseintrages geben muss, aber nicht, dass es ein drittes Geschlecht gibt. Es wäre ja auch geradezu widersinnig, diese Menschen mit ihrer Besonderheit jetzt alle zusammen „in einen Topf “ zu werfen um ihnen dann wiederum ein gemeinsames Geschlecht (nämlich das „dritte“) zuzuweisen. Damit würde ja wieder genau das passieren wogegen die Klage letztendlich geführt wurde. Wenn man die Bevölkerung nach den aus Sicht des BVerfG möglichen Eintragungsmöglichkeiten „männlich“, „weiblich“ und „andere“ (oder wie es dann letztendlich bezeichnet wird) gruppieren würde, dann wären sich die Gruppe der Männer und ebenso die der Frauen jeweils einig, dass sie alle demselben Geschlecht angehören, nicht aber so bei der dritten Gruppe. Der Mensch mit zwei Y-Chromosomen als Beispiel wird sich vermutlich nicht dem selben Geschlecht angehörig fühlen wie der mit nur einem X-Chromosom und das zu Recht!
Insofern betrachte ich es als großes Mißverständnis wenn jetzt diskutiert wird, diese Gruppe könnte das Minderheitengeschlecht im Sinne des BetrVG sein.
Lassen Sie mich eine Prognose wagen: Zu den Betriebsratswaghlen 2022 wird diese Minderheitengeschlechterregelung abgeschafft sein, weil er spätestens seit diesem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes nicht mehr zu verargumentieren ist. (Ok, vielleicht bin ich da etwas zu optimistisch was den Zeitraum angeht, wo wir doch nicht einmal wissen ob wir bis dahin wieder eine richtige Regierung haben. Aber Justitia wird es dann schon richten.)
Lassen Sie mich einfach mal provokativ eine Frage in den Raum stellen: Brauchen wir überhaupt ein „öffentliches“ Geschlecht? Spielt es z.B. hier für Ihren Beitrag und meinen Kommentar irgendeine Rolle, welches Geschlecht wir haben? Spielt es im öffentlichen Leben überhaupt eine Rolle, bzw. sollte es überhaupt eine Rolle spielen?
Sehr geehrter Autor,
vielen Dank für Ihren Kommentar. Ihr Beitrag zeigt, dass es auch nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts noch viele ungeklärte Fragen gibt, über die sich kontrovers diskutieren lässt.
Aktuell hat das Wahlrecht bei Betriebsratswahlen nach § 15 BetrVG insofern Geschlechtsbezug, als nach dieser Vorschrift das Minderheitsgeschlecht besonders zu berücksichtigen ist. Ich stimme aber mit Ihnen überein, dass es wünschenswert wäre, dass der Gesetzgeber anlässlich der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts für zukünftige Betriebsratswahlen eine Neuregelung trifft, die praktisch umsetzbar ist und die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts berücksichtigt. Warten wir ab, was die Zukunft bringt und ob Ihre Prognose am Ende zutrifft